„Jenseits von Nation und Volk!“

Folgende Rede wurde von uns anlässlich der Demonstration des Antifa-Bündnisses „Gegen Antisemitismus, Verschwörunsgwahn und Wittener Verhältnisse“ am 22. März in Witten gehalten:

Liebe Freund*innen, liebe Genoss*innen!

Eigentlich habe ich gar keine Lust, hier zu sein. Ich könnte mir wirklich Schöneres vorstellen, als mich früh am Sonntagmorgen aufzumachen, um ein paar Anhänger*innen absurder Vorstellungen zu nerven. Ein paar von diesen Leuten, die der Idee einer Weltverschwörung nachhängen, die glauben, dass wir in Wahrheit alle unterworfen sind und kaum Bestimmungsgewalt über unser Leben haben.

Es ist ja auch augenscheinlich nur ein Randphänomen – ein paar Menschen, die sich in skurrile Verschwörungstheorien verrennen. Warum bin ich also trotzdem hier? Eben, weil das nicht stimmt. Wir haben es hier mit einer gefährlichen Bewegung zu tun, die keineswegs so randständig ist, wie der erste Eindruck uns glauben machen will.

Zurzeit versammeln sich etwa 800 Anhänger*innen von Verschwörungstheorien im Saalbau hier in Witten zu ihrem sogenannten »Alternativen Wissenskongress« und verhandeln, von welchen bösen Mächten sie nun am meisten ferngesteuert werden. Der Mechanismus, der hinter dieser Fragestellung steht, ist weder ungewöhnlich, noch ein neues Phänomen: es handelt sich schlicht um strukturellen Antisemitismus. Statt sich mit den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen und zu versuchen, die Prozesse und Mechanismen zu verstehen, die zum Status Quo führen, machen es sich diese Menschen deutlich leichter: sie finden Schuldige, die für die Misere Deutschlands verantwortlich sind. Auf diese werden dann bestimmte Eigenschaften projiziert, die verdeutlichen sollen, dass wir uns dieser Schuldigen bloß entledigen müssten, um all unsere Probleme zu lösen. Unter klassischen Neonazis wären dies die Jüdinnen und Juden, die insgeheim eine Weltverschwörung betreiben; hier sind es nun diese Mächtigen im Hinterzimmer, bisweilen auch als »Schattenregierung« bezeichnet, die als Schuldige identifiziert werden. Aber auch der über Jahrhunderte tradierte Rassismus gegenüber »den Juden« findet immer wieder Platz unter Verschwörungstheoretiker*innen, wenn etwa herbeihalluziniert wird, dass jüdische Bänker*innenfamilien mit Unterstützung der zionistisch gelenkten Presse nach der Weltherrschaft strebten.

Während Letzteres von den meisten Menschen schnell als Antisemitismus identifiziert und in der Regel zumindest aus Berührungsängsten abgelehnt wird, verhält es sich bei der Konstruktion der »Mächtigen im Hintergrund« anders. Zu verlockend ist es, ein geschlossenes Weltbild zu haben, eine einfache Erklärung, warum es so vielen Menschen in Deutschland schlecht geht. Es ist die einfachere Alternative, sich solchen Vorstellungen hinzugeben, statt die eigene Rolle in der täglichen Reproduktion der gegenwärtigen Verhältnisse zu hinterfragen. Soziale Gegensätze und systemisch konstruierte Zwänge sind das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung, die nicht von einzelnen Individuen mit böser Absicht etabliert, sondern gesellschaftlich getragen wurden und nun tagtäglich reproduziert werden. Für Jürgen Elsässer und seine Anhänger*innen im Saalbau ist dies aber ohne Bedeutung, da sie der Überzeugung anhängen, dass alle Missstände in Deutschland auf die Machenschaften finsterer Verschwörungen, die alles Unheil über uns brächten, zurückzuführen sind.

Durch die Berufung auf diese Verschwörungen ist es zudem unmöglich, diesen Menschen mit rationalen Argumenten beizukommen. Wenn alle Geschehnisse auf der Welt – seien dies nun Kriege oder Hungersnöte – auf die Aktivitäten von geheimen Strukturen zurückgeführt werden, so kann weder ein Beweis dafür, noch einer dagegen erbracht werden; schließlich bleiben diese Strukturen stets im Schatten. Es handelt sich im Kern vielmehr um eine Glaubens- als eine Wissensfrage, wenn alles stets auf höhere politische Mächte im Verborgenen zurückgeführt wird. Nehmen wir an, mehrere Konzerne haben eine illegale Absprache getroffen und der Skandal wird schließlich publik: Ganz klar ein Beweis für eine Weltverschwörung! Das ist jedoch immer nur die Spitze des Eisberges; wenn gerade kein Skandal zur Hand ist, egal ob nun einer existiert oder nicht, gilt eine andere, simple Formel: Die Presse lügt und schreibt nur das, was ihr von den wahren Machthaber*innen im Verborgenen vorgegeben wird. Eine Argumentation, die auch gerne von anderen Rassist*innen, etwa denen der Pegida-Bewegung, gerne angewandt wird. Wenn wir uns heute hier versammeln, dann weil es eben genau nicht ausreicht, den Versuch zu starten, gegen Menschen zu argumentieren, die sich alle Fakten so drehen, dass sie in ihr Weltbild passen. Wir müssen deutlich demonstrieren, dass wir solche Absurditäten nicht akzeptieren!

Natürlich mag mensch sich jetzt denken: »Ja und? Dann lass diese armen, verlorenen Leute doch ihren seltsamen Vorstellungen von der Welt nachhängen – die stören doch niemanden.« Doch die Verschwörungstheorien haben noch eine weitere Dimension, die sie gefährlich macht. Denn wie in jedem Antisemitismus sehen auch die Wahnwichtel im Saalbau ein Kollektiv, dem sie angehören, von den herbeifantasierten Verschwörungen bedroht. Der Titel macht es klar: »Wer regiert Deutschland wirklich?« – letzten Endes haben wir es hier mit ähnlich stumpfen Nationalismus zu tun, wie bei so vielen anderen Gruppen auch. Nun also wieder das Zwangskollektiv der Deutschen. Denn die armen Deutschen werden fremdgesteuert; einige behaupten gar, es würde versucht, die Deutschen über Chemtrails – dies sind die Kondensstreifen der Flugzeuge, denn angeblich handelt es sich bei ihnen in Wahrheit um ein Vergiftungswerkzeug – sowie Impfstoffe unfruchtbar zu machen. Was ist also die unter all den Verschwörungen begrabene Botschaft? In nationalistischer Tradition wird gefordert, dass sich die Deutschen gegen die finsteren Mächte zur Wehr setzen müssten. Und da ja alle Deutschen gleichermaßen betroffen und ferngesteuert seien, wird ein Gemeinschaftsgefühl à la Pegida erzeugt. Die Volksgemeinschaft müsse zusammenstehen und sich gegen die Feinde von außen verteidigen. Selbst wenn die Verschwörungstheoretiker*innen in der Unterzahl bleiben, so tragen sie auf diese Weise doch erheblich zur Bestärkung des völkisch-nationalistischen Gedankenguts bei und beflügeln rassistische Ressentiments und andere antisemitische Strömungen.

Im Angesicht dieser Spinnereien muss deutlich artikuliert werden, dass unser Problem nicht die Unterjochung Deutschlands durch irgendwelche höheren Mächte ist. Unser Problem ist ein System kollektiver Zwänge. Wir alle sind Teil eines kapitalistischen Systems, das unsere individuelle Freiheit etwa durch den Zwang zur Lohnarbeit, aber auch durch unsere Zugehörigkeit zum Zwangskollektiv einer Nation, in der wir staatlicher Gewalt unterworfen sind, einschränkt. Und wir alle tragen täglich zur Reproduktion und Zementierung dieser Verhältnisse bei und können uns also auch nur selbst wieder davon befreien. Wenig hilfreich ist es dabei, die komplexen gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhänge auf ein paar böse Verschwörungen einzudampfen und so jegliche Schuld am Status Quo auf andere abzuwälzen und den Hass gegen diese zu schüren. Es ist nicht nur geradezu lächerlich, wie sich die Verschwörungstheoretiker*innen auf diese Weise aus der Affäre ziehen, da sie ja nur harmlose Opfer seien, nein – obendrein ist das auch noch gefährlich. Die deutsche Geschichte zeigt eindrücklich, wo es hinführt, wenn sich genügend Menschen solchen Wahnvorstellungen hingeben, sobald die vermeintlich Schuldigen einmal identifiziert wurden.

Das Problem heißt also nach wie vor Deutschland. Verschwörungstheoretiker*innen, Nazis, besorgte Bürger*innen – sie alle berufen sich auf ein Zwangskollektiv, das angeblich ein gemeinsames Schicksal teilen müsse. Die Gesamtscheisze aus Staat, Nation und Kapital muss endlich überwunden werden!

Gegen den Verschwörungswahn! Gegen jeden Antisemitismus! Für eine emanzipierte Gesellschaft jenseits von Nation und Volk!