Anarchistische Anschläge?

In Rom wurden letzte Woche zwei Paketbomben an die schweizerische sowie die chilenische Botschaft geschickt. Laut den offiziellen Statements der Polizei und den Massenmedien zufolge, sollen sich hierzu Anarchisten der sog. Federazione Anarchica Informale (FAI) bekannt haben.
Vorerst sei dahingestellt, ob für diese Taten tatsächlich Anarchist_inn_en verantwortlich sind. Dies lässt sich bis jetzt und aus unserer Position nicht beurteilen, ist allerdings auch nicht zwingend ausschlaggebend.
Ausgehend von der Annahme, dass die Pakete tatsächlich von einer anarchistischen Gruppe verschickt wurden, lässt sich die Sinnhaftigkeit der Aktion nicht nachvollziehen. Die anarchistische Utopie basiert u.a. auf Gewaltfreiheit. Dies bedeutet in der heutigen Zeit nicht, dass von Anarchist_inn_en grundsätzlich keine Gewalt ausgeübt wird; dennoch entsprechen solch unbestimmte Gewaltakte wie die oben genannten nicht der anarchistischen Idee. Selbst unter Berücksichtigung des Zitats aus dem (angeblichen) Bekennungsschreiben „Wir zerstören das Herrschaftssystem“ erscheint diese gezielte physische Verletzung von Menschen nicht kompatibel mit unseren Vorstellungen. Natürlich streben wir – wie alle Anarchist_inn_en – eine Abschaffung des Herrschaftssystems an, dennoch sind wir uns bewusst, dass wir dies – auf Grund gesellschaftlicher und anderer situationsbedingter Gegebenheiten – nicht jetzt und vor allem nicht von heute auf morgen erreichen können. Wir sind uns bewusst, dass eine Verbreitung der anarchistischen Idee in der Bevölkerung vor allem eine Richtigstellung des Begriffs und der damit verbundenen (überwiegend negativen) Vorstellungen erfordert. Dies kann jedoch nicht durch mehr oder weniger ziellose „Anschläge“ auf staatliche Institutionen erreicht werden, deren genaue Motivation und Aussage schleierhaft bleiben.
Vor allem aber kann dies nicht durch Anschläge auf (unschuldige) Menschen erreicht werden. Durch den Versand der Paketbomben wurde die Verletzung, wenn nicht sogar Tötung Anderer geplant und in Kauf genommen. Dies ist kein revolutionärer Akt sondern zeugt lediglich von einer inhumanen Weltanschauung, die grundlegende Grenzen der politischen Aktion nicht kennt.
Auch wenn jede_r Anarchist_in die sog. Gewaltfrage für sich selbst definieren muss – Gewalt darf niemals Mittel zum Zweck sein, darf niemals das Mittel der Wahl sein!
Allerdings sollte gleichzeitig nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Vorfälle in einem innenpolitisch unruhigem Kontext stehen und wir aus der Geschichte gelernt haben, dass es einfach ist, den Begriff Anarchie bzw. Anarchismus als Sündenbock zu benutzen. Insbesondere auf Grund der verbreiteten negativen Assoziationen, ist es simpel, die Unwissenheit des Großteils der Menschen zu nutzen und die Idee des Anarchismus und deren Idealist_inn_en weiter zu verunglimpfen – das Schreckgespenst der alles zerstörenden Anarchie, in der jede_r jede_n umbringt und die Welt in Schutt und Asche liegt, ist in fast allen Köpfen präsent und bietet so einen guten Nährboden für eine Festigung von Aversionen und für eine Glaubhaftmachung von lückenhaften, nicht stichhaltigen Ermittlungsergebnissen und Presseberichten.
Die Massenmedien produzieren und reproduzieren jeden Tag die Welt, die uns als Wahrheit verkauft werden soll. Um Richtigkeit oder Ehrlichkeit geht es leider selten. In Zeitungen, Fernsehen, im Internet werden wir mit den Informationen zugeschüttet, die wir wissen, aber nicht hinterfragen sollen. Wir werden mit manipuliertem, erfundenem oder halbwahrem Geschehen konfrontiert – vorgekaut, zurechtgebogen und angepasst, damit wir es schlucken können, ohne unser Weltbild hinterfragen zu müssen, damit wir es nicht wieder auswürgen müssen, weil es uns nicht schmeckt.
Unabhängigen, aufklärenden Journalismus gibt es kaum noch und genau deshalb ist es an uns, zu hinterfragen, zu kritisieren, zu recherchieren, uns zu interessieren und zu informieren.
Es ist an uns, den gesamten Informationsbrei auszukotzen und darin nach der Wahrheit zu wühlen – und vielleicht finden wir darin Anarchist_innen, die Bomben gebastelt haben, vielleicht aber auch Berlusconis Fingerabdrücke auf dem Paket.
In jedem Fall:
Wir solidarisieren uns mit unseren weltweit von Repression betroffenen Freundinnen und Freunden, Genossen und Genossinnen!
Glaubt nicht jeden Scheiß – eine Welt ohne Kritik und Fragen, ist eine Welt, die sich nicht dreht.
asjbonn